In den Fach-Weingeschäften fehlt es nicht an edlen Tropfen aus Saint Emilion. Auch Weine aus dem Jahr 2020 sind bereits seit einiger Zeit dabei. Oft zum gleichen Preis wie 2019. Was lohnt sich zu kaufen? Ist es vielleicht zu früh, die Bordeaux-Weine aus 2020 zu genießen?

Jeder Wein durchläuft in der Flasche einen gewissen Lebenszyklus. Dass es dabei keine Universalregel wie „Je älter, desto besser“ geben kann, soll vielleicht einen skeptisch eingestellten Käufer abschrecken, doch für einen echten Weinliebhaber bedeuten unterschiedliche Reifungsmuster einen ganz eigenen Reiz.

In meinen früheren Beiträgen habe ich bereits erwähnt, dass unterschiedliche Rebsorten sich vom Lagerpotenzial her ziemlich unterscheiden (so kann zum Beispiel ein Cabernet Sauvignon-Wein meistens viel länger als ein Merlot im Weinkeller ruhen, ohne dabei an Qualität zu verlieren).

Eine Reifungskurve des Weins ist noch wieder etwas anderes. Ein Wein ändert mit der Lagerzeit seine Eigenschaften (in Bezug auf Tannin, Säure, Körper, Fruchtigkeit). Und wenn man keine extremen Punkte der Kurve nimmt, wo es eindeutig zu früh oder zu spät ist, die Flasche zu öffnen – dann gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern nur persönliche Präferenzen.

Bei den Saint Emilion-Weinen mag ich das Fruchtige, das sich im dritten Jahr offenbart. Später verschließt sich der Wein wieder ein wenig, um erst einige Jahre später seine Frucht wieder preis zu geben. Dann aber ganz anders: mit weniger präsenten Tanninen und Säure, gewachsener Komplexität. Diesmal werden wir aber keinen Vergleich zwischen älteren und jüngeren Weinen besprechen, sondern drei Saint Emilions aus 2020 verkosten: den Haut Brisson, den Pierre 1er und den Tour Saint Christoph.

Haut Brisson 2020

Ein Cuvée aus 90 % Merlot und 10 % Cabernet Franc – ein Merlot also. Er verbringt 18 Monate im Barrique.

Der Haut Brisson 2020 ist tanninreich und ziemlich voluminös. Heute ist er für meinen Geschmack absolut trinkreif. Nase: Feine schwarze Kirsche, aber auch rote Johannisbeere und Eukalyptus. Im Mund leicht mineralisch, viel reife Kirsche und etwas Lakritz. Ein gutes Jahr, ohne Frage. Ich lege unbedingt noch ein paar Flaschen in den Keller, um sie in 4-5 Jahren zu genießen.

Pierre 1er 2020

Merlot/Cabernet Franc/Cabernet Sauvignon, ebenso 18 Monate im Barrique gereift. Hier ist der Genuss etwas dunkler und pelziger. Die Nase: reife schwarze Pflaumen, Brombeere und etwas von griechischen Oliven. Am Gaumen ist der Wein von mittlerem Körper und sehr fruchtig. Die Säure sorgt für angenehme Frische, begleitet von etwas Minze. Die Tannine bleiben im Hintergrund, hinter den leisen holzigen Noten mit etwas Schokolade.

Tour Saint Christophe 2020

Merlot/Cabernet Franc/Cabernet Sauvignon, 18 Monate im Barrique.

So sehr, wie mir die ersten zwei Weine gefallen, muss ich trotzdem den Tour Saint Christophe 2020 besonders hervorheben. Zugestanden, das ist meine alte Liebe. Bereits der Tour Saint Christophe 2015 hat mich absolut fasziniert, er war auch der erste Wein, der mir damals so sehr gefallen hat. Frisch und sehr fruchtig, aber trotzdem elegant mit Klängen von Zeder und Eukalyptus. Das Mineralische sorgt bei dem Wein für eine ruhigere Linie und lässt die markanten Fruchtnoten (rote Johannisbeere, Stachelbeere, Himbeere) nicht kitschig klingen. Sie bringt einen Hauch von schwarzen Trüffeln und verlängert den Abgang. James Suckling empfiehlt, den Wein erst nach 2027 zu trinken. Es lohnt sich also, eine Flasche noch ein paar Jahre aufzubewahren – wer es aushält …