Ich erinnere mich noch genau. Es war im Jahr 2005, als ich das erste Mal auf die Weine von Bibi Graetz gestoßen bin. Er sei nicht nur in seinem Äußeren ein etwas schräger Vogel, auch sein Wirken ist nicht ganz gewöhnlich, teilte man mir mit. Ich horchte auf, meine Neugier war geweckt. Weshalb genau, wollte ich wissen. Nun, antwortete man mir, wer sonst würde sich auf solch eine verrückte Mission einlassen und auf der Insel Giglio, der kleinen Insel vor der toskanischen Insel, unter strapaziösen Umständen, Weinbau betreiben. Und dann der riesige Aufwand, den er auf dem Festland betreibt, immer auf der Suche nach den spannendsten Lagen, die mit den ältesten Rebanlagen gepflanzt sind. Immer auf der Suche nach dem deutlichsten Abdruck der Sangiovese- Traube, kompromisslos in Ausdruckstärke und Ausrichtung hinsichtlich Qualität in Sachen Ausbau und Ausbaudauer. Und dann diese Etiketten, ob ich so etwas schon mal gesehen hätte. Tatsächlich überraschte mich das Gesamtpaket Bibi Graetz. Die Verkostung damals war wie ein Donnerschlag! Unheimlich dichte, markante und fleischige Weine. Etwas wild und ungestüm, aber außergewöhnlich, extrem eigenständig und erinnerungswürdig. Und genau darum geht es doch im Leben im allgemein und im Arbeitsalltag eines Weinhändlers im speziellen, oder?! Und dann dieser Name…. „Testamatta“, „verrückter Kopf“, vielleicht auch „Irrer“, die Engländer würden wohl am ehesten den Begriff „fool“ heranziehen. Fast zwanzig Jahre später sitze ich nun hier, habe die Jahrgänge 2020 des Testamatta und dem noch kompromissloseren Colore vor mir. Mich überkommt ein wohliges Gefühl. Es ist schön zu wissen, dass sich manche Kreise irgendwann doch schließen. Und ich bemerke Vorfreude. Wieder bin ich neugierig. Dieses Mal ist es nicht die erste Begegnung, sondern ein Wiedersehen, ein treffen unter Freunden nach langer Zeit. Ich bin gespannt für was für einen Wein Bibi nach all den Jahren steht.

Das Weingut

Bibi Graetz‘, Charakterkopf mit norwegischen Wurzeln, hatte lange Zeit anderes im Sinn. Der junge Kerl, der in einer Künstlerfamilie aufgewachsen ist, hatte sein Leben in der Welt der Kunst vermutet. Folgerichtig absolvierte er auch zunächst sein Kunststudium, bis er dann wieder immer mehr und wieder mit dem elterlichen Projekt des Weinbaus in Berührung kam. Vor über 40 Jahren hatten sie in den Hügeln von Fiesole, ganz in der Nähe von Florenz, Reben gepflanzt, um die sie sich aber nie richtig gut gekümmert hatten. Die Idee Rebstöcke zu begleiten und Trauben zu ernten, die von genau dem Fleckchen Erde berichten auf dem sie stehen, faszinierte ihn. Im Laufe der Zeit reifte der Wunsch in ihm sich über Wein, statt nur über Farben auf Leinwände auszudrücken. Nach vielen Gesprächen mit befreundeten Winzern während seiner vier Wanderjahre, bei denen er viele praktische Erfahrungen sammelte und lernte seine Intuition auszubilden und ihr zu vertrauen, erkannte er auf dem elterlichen Anwesenden das tolle Potential des Bodens. Mit Sand durchmischter Mergel-Lehmboden! Das was die Sangiovese- Traube so sehr liebt! Im Jahr 2020 begann er schließlich sein ehrgeiziges Projekt des eigenen Weingutes. Nach wenigen Jahrgängen bemerkte er, dass die elterlichen zwei Hektar nicht ausreichten, um ernsthaft Wein zu produzieren. Was dann begann, kann man auch als den Ausbruch seiner Sammelleidenschaft bezeichnen. Er begann damit alte Weinberge zu suchen, sich ein Netzwerk an Hinweisgebern aufzubauen und sicherte sich alles, was wirklich Potenzial hatte und alt war. Nicht selten waren die Schätze, die er barg mit über 80 Jahre alten Reben bestockt. Hektarerträge von unter 30hl/ha sind dann auch tatsächlich die Normalität, als die Ausnahme. Der neue Ort seines Schaffens ist das neu bezogene Weingut Aurora, welches direkt an der zentralen Piazza Fiesoles liegt. Hier entstehen seine Weine, hier lebt er mit seiner Familie. Mit Blick auf Florenz und den Früchten seiner Arbeit.

Wein_Colore_Graetz

2020 Colore

Zu seinem Colore hat Bibi Graetz eine ganz besondere Verbindung. Mit ihm möchte er die Geschichte der wahren Toskana erzählen, so wie er sie erlebt, so wie er sie fühlt. Seine Vision eines toskanischen Weines ist das Geschmackserlebnis, der das volle Spektrum ders toskanischen Landschaft ins Glas bringt. Geboren auf den kargen, steinigen und sandigen Böden seiner Heimat, selektioniert er die allerbesten Trauben und die besten Fässer. Kein Kompromiss. Nur Charakter, Herkunft und Fülle.

Bibi Graetz zum Wein

„Der Ausdruck des puren Sangioveses. 100% Toskana. Colore ist meine erste Liebe, meine Liebe zu alten Reben, die unglaubliche Weine hervorbringen. Das Wetter im Jahr 2020 war wärmer als sonst und bescherte uns einen kräftigen Jahrgang. Die Kombination mit den alten Rebstöcken, der Höhe und der Lage unserer Weinberge hat eine magische Wirkung. Ein Wein mit einer perfekten, lebendigen Spannung, bei dem die Kraft des Jahrgangs in Harmonie mit der Eleganz unserer Reben tanzt. Mit diesem Jahrgang hat sich der Kreis geschlossen und wir haben den besten Colore aller Zeiten geschaffen.

Drei neue Elemente kennzeichnen den Jahrgang 2020. Der erste ist das Klima; unsere Weinberge haben sich noch nie so gut entwickelt wie im Jahr 2020. Die neuen Weinberge in Olmo, die den Weinen dank des magischen Terroirs in 420 m Höhe eine unglaubliche Frische verleihen. Das dritte Element ist die neue Kellerei in Fiesole, die es uns ermöglicht hat, effizienter und komfortabler zu arbeiten. Wir verfügen nun über alle Mittel, um die Testamatta und Colore zu schaffen, die wir immer angestrebt haben. Im Jahr 2020 war das Klima allgemein warm. Nach einem milden Winter begann der Frühling mit einigen Regentagen kurz vor der Blüte, die es den Pflanzen ermöglichten, die richtigen Wasserreserven anzulegen. Der Sommer kam schnell mit überdurchschnittlichen Temperaturen und Trockenheit, aber glücklicherweise erlaubten kühle Nachtbrisen den Trauben, einen hohen Säuregehalt und aromatischen Charakter zu bewahren. Die Regenfälle vor der Ernte ließen die Trauben voll und ganz reifen. Die Ernte begann am 24. September und endete am 15. Oktober.

Weinbereitung und Reifung

Die Trauben für den Colore wurden aus den vier am besten geeignetsten Weinbergen ausgewählt: Lamole, Vincigliata, Olmo und Siena. Jeder Weinberg wird bis zu acht Mal geerntet, um alle Trauben zum richtigen Reifezeitpunkt zu ernten. Nach einer ersten Selektion im Weinberg werden die Trauben im Weinkeller erneut selektiert. Nach dem Abbeeren werden die Trauben sanft gequetscht und dann zur Gärung in offene Barriques umgefüllt, wobei darauf geachtet wird, dass die einzelnen Parzellen voneinander getrennt bleiben. Die spontane Gärung dauert etwa zwei Wochen mit einer weiteren Woche Mazeration auf den Schalen, während der täglich 6-8 manuelle Abstiche durchgeführt werden. Nach Abschluss der Gärung wird der Wein in Barriques gefüllt, wo die malolaktische Gärung stattfindet. Jede Parzelle wird fast 20 Monate lang separat gereift, bevor die endgültige Mischung beschlossen wird.

 Unsere Verkostung

Der 2020er Colore von Bibi Graetz präsentiert ein köstliches Duftbild, welches mich spontan an eine pralle, schwarze Kirsche und dahinter auch an eine Weichselkirsche erinnert hat. In Ihrer Reife bereits leicht angedrückte Himbeeren und Heidelbeeren finden sich ebenso wie Unterlaub, heller Tabak, weißer Pfeffer und warmes Leder. So schmeckt also Sangiovese aus alten, für Italien uralten Reben, von steinigen und kargen Böden. Die ganze Klasse, die herausragende Qualität und seine Noblesse zeigt der Colore 2020 allerdings dann am Gaumen. Auch hier wieder satte Kirschfrucht, Schokolade und getrocknete Kräuter. Spätestens, wenn sich der Wein am Gaumen ausbreitet und sein dichtes, aber jederzeit sehr elegantes Tannin zur Geltung bringt, wird alles klar. Die Genialität liegt im schlafwandlerischen gefundenen Mittelweg, nein aus dem Kontrast aus Konzentration und Finesse, aus Dichte und Geschliffenheit. Der Wein wirkt auf mich wie ein in Stein gemeißeltes Kunstwerk, nichts wirkt hinzugefügt, nichts scheint hier nicht her zu gehören. Kraft und Ausdrucksstärke in einem sehr verspielten Miteinander. Das ist toskanischer Geschmack, das ist italienisches Feuer, aber auch ganz viel Mailänder Scala!